Jurastudium: Wissen oder Werte?

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Juristinnen und Juristen von morgen müssten sowohl Fachleute als auch Kämpfe­r:innen sein, fasst Dr. Neubert zusammen. © Einhorn Solutions & AI
Vermittelt die juristische Ausbildung genug Bewusstsein für die Bedeutung des Rechtsstaats? Die Anwaltschaft muss sich in Streitfragen positionieren und darf die Deutungshoheit über das Recht nicht allein Politikern überlassen.

Wer Rechtsstaatlichkeit stärken und Freiheit bewahren will, muss sich auch mit der Frage befassen, ob die dafür notwendigen Voraussetzungen schon im Studium geschaffen werden. Diese Fragen durften Professor Alexander Thiele von der BSP Business & Law School, Dr. John Philipp Thurn, Richter am Sozialgericht und Vorstandsmitglied des Forum Justizgeschichte, und ich diskutieren – hervorragend moderiert von Emilia De Rosa und Alisa Kludssuweit.

Doch was ist gemeint mit einem „Bewusstsein für die Bedeutung des Rechtsstaats“? So bewusst offen die Veranstaltungsfrage gewählt war, so herausfordernd war auch die Antwort darauf. Zur Kernfrage, ob das Jurastudium ausreichend Bewusstsein für die Bedeutung des Rechtsstaats vermittele, wurde mithilfe von Mentimeter ein Stimmungsbild unter den Anwesenden der Veranstaltung eingeholt.

Anstelle der Lösung konstruierter Klausursachverhalte müssen die Studierenden in der Rechtsanwendung die konkreten Auswirkungen ihres Handelns auf das Leben von echten Menschen erkennen.

44 Prozent der Teilnehmenden verneinten die Frage, 25 Prozent bejahten sie und 31 Prozent wollten sich nicht festlegen. In einer im Vorfeld erhobenen Umfrage in der Lernplattform Jurafuchs, an der knapp 2.000 Personen teilgenommen hatten, fiel das Ergebnis anders aus: Die Frage, ob das Jurastudium genug Bewusstsein für den Rechtsstaat vermittelt, hatten 71 Prozent mit „ja“ und 29 Prozent mit „nein“ beantwortet.

Auch deshalb fokussierte sich die Diskussion zunächst darauf, ein Verständnis eines rechtsstaatlichen Bewusstseins herauszuarbeiten. Alexander Thiele stellte dem Rechtsstaatsprinzip das Demokratieprinzip gegenüber und kritisierte, dass eine Fokussierung auf den Rechtsstaat das Bewusstsein für die Funktionsbedingungen demokratisch verfassten Ordnung versperre. Das Recht regele und löse keinesfalls alles, beschränke aber zu oft den Raum, den Politik benötigt, um Dinge zu gestalten.

Sterile Lehre statt reflektierter Rechtsanwendung?

Philipp Thurn betonte die Notwendigkeit, Konflikte in der Rechtsanwendung im demokratischen Rechtsstaat als solche anzuerkennen und auszuhalten. Als Richter am Sozialgericht müsse er selbstverständlich auch Gesetze anwenden, die er für ungerecht oder für handwerklich schlecht gemacht halte. In der juristischen Ausbildung kämen solche Konflikte aber häufig lediglich daher als mehrere gleichwertig vertretbare Meinungen, bei denen es unerheblich sei, welche man vertrete, solange man zu einem Ergebnis komme. Dies griff auch Alexander Thiele auf und problematisierte, dass das Recht in der juristischen Ausbildung zumeist unpolitisch und geradezu steril vermittelt wird. Daraus resultiert bei vielen Studierenden eine kontextlose, unkritische Rechtsanwendung. Die Bedeutung des Rechtsstaats für die Studierenden beschränkt sich dann auf ein argumentatives Mittel, um in der Klausur zu punkten.

Ein rechtsstaatliches Bewusstsein erfordert demgegenüber – hier war sich das Panel einig: Anstelle der Lösung konstruierter Klausursachverhalte müssen die Studierenden in der Rechtsanwendung die konkreten Auswirkungen ihres Handelns auf das Leben von echten Menschen erkennen. Begreifen die Studierenden das Recht nicht bloß als ihr Studienfach, sondern als mächtiges Gestaltungsinstrument, dessen Auslegung und Anwendung in ihrer Verantwortung liegt, dann entwickeln sie Selbstwirksamkeit und neue Freude am Jurastudium.

Mehr Kontext, weniger Stoff

Um dieses Bewusstsein zu vermitteln – dies ergab die Diskussion –, bedarf es neuartiger Lehr- und Lernformate als festen Bestandteil der juristischen Ausbildung, die den Studierenden die Relativität des Rechts plastisch vor Augen führen und eine reflexive Auseinandersetzung mit dem Recht provozieren. Dazu gehören Rechtsvergleichung und Interdisziplinarität genauso wie Kontextualisierung und ein Verständnis von Machtstrukturen. Um Platz für neue Formate zu schaffen, muss der Prüfungsstoff reduziert werden.

Fazit

Juristinnen und Juristen von morgen müssen sowohl Fachleute als auch Kämpfer:innen sein. Sie müssen in der Lage sein, auf Grundlage herausragenden fachlichen Sachverstandes die Rechtslage präzise, differenziert und abgewogen herauszuarbeiten und sie sachlich und unaufgeregt zu erläutern. Sie dürfen sich aber nicht begreifen als im Übrigen unbeteiligte, neutrale Ausführungsorgane eines vorherbestimmten, gleichsam mathematischen Rechenvorgangs, mit dessen Herleitung und dessen Auswirkungen sie nichts zu tun haben. Sie müssen auch bereit sein, sich in Streitfragen zu positionieren und dadurch die Deutungshoheit über die tatsächlichen Wirkungen des Rechts nicht allein Politikern und schon gar nicht Populisten zu überlassen – und müssen dahingehend ausgebildet werden.

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Dr. Carl Wendelin Neubert
Der Autor ist Rechts­anwalt, Mitgründer und Chefre­dakteur von Jurafuchs und Lehrbe­auf­tragter an der BSP Business & Law School.